Warum es eine kurze Risiko-Meditation braucht
In meinen bisherigen Artikeln ging es ja immer viel um Erklärungen. Gerade beim Thema Risiko ist für mich aber eines deutlich. Viele unterschätzen, wie sich hohe Kursschwankungen anfühlen und wie sie auf diese emotionale Achterbahn wirklich reagieren. Heute versuche ich es daher mit dieser kurzen Risiko-Meditation.
Die kurze Risiko-Meditation soll Dir helfen, Dir über eine häufig gestellte Frage klar zu werden: 100% Aktien oder doch weitere Anlageklassen wie z.B. Anleihen beimischen?
100% Aktien findest Du super? Anleihen werfen nichts ab und kommen daher nicht in Frage. Das lese ich seit Jahren immer wieder in diversen Foren.
Interessanter Weise hört man das vor allem dann, wenn die Kurse über eine längere Zeit hinweg stark gestiegen sind. Während oder kurz nach einem Crash, verstummen diese Stimmen ganz plötzlich. Warum nur?
Während des Corona-Crash und kurz nach dem Ukraine-Krieg gab es nur wenige solcher Wortmeldungen. Die Forenbeiträge hatten auf einmal einen ganz anderen Charakter.
Wer ja sagt zu 100% Aktien und einer hohen Rendite, muss eben auch ja sagen zu 50% Verlust und mehr. Rendite kommt von Risiko. Die Rendite von Aktien gefällt jedem, aber die hohen Kursschwankungen mag kaum jemand.
50% möglicher Verlust sind erst einmal eine abstrakte Zahl. Tatsächlich ist sie sogar sehr abstrakt, denn es können auch deutlich mehr oder weniger sein. Mit Einzelaktien sind auch dauerhaft 100% Verlust gar nicht unwahrscheinlich.
Wieso? Das ist leider dem individuellen Risiko von einzelnen Aktien geschuldet. Bei einem breit gestreuten Investment in Indexfonds oder -ETFs sieht es anders aus.
Klar. Auch da ist es eine Frage der Zeit, wann sich nach einem Crash das nächste Allzeithoch einstellt, aber es wird sehr wahrscheinlich kommen. Bei Einzelaktien ist die Gefahr eines Totalverlustes hingegen stark erhöht.
Im Falle von Indexwerten bedeutet Risiko vor allem, dass es temporär zu hohen Verlusten kommen kann. Wird eine entsprechende Mindesthaltedauer von > 15 Jahren eingehalten, ist ein Verlust bei einem breiten Index wie dem MSCI ACWI IMI sehr unwahrscheinlich.
Das sagt zumindest der historische Rückblick. In der Zukunft kann alles natürlich immer ganz anders sein. Ein Totalausfall ist da in jedem Fall aber ziemlich unwahrscheinlich.
Aber auch die temporären Schwankungen, die ein gut diversifiziertes Investment mit sich bringen, ist für viele bereits zu viel.
Die kurze Risiko-Meditation hier soll Dir daher dabei helfen, Dir ein besseres Verständnis zu vermitteln, worauf Du Dich dabei einlässt.
Überblick
Kurze Risiko-Meditation
Was ist Meditation?
Eine Sache sollten wir aber zu allererst bei der kurzen Risiko-Meditation. Was ist eine Meditation eigentlich?
Ist das nicht so eine esoterische Praxis aus Asien? Muss ich mich jetzt dazu im Schneidersitz auf den Boden setzen, Räucherstäbchen anmachen und Om sagen? Hat das nicht viel eher mit Religion als mit Geldanlage zu tun?
Zur Meditation gibt es sehr viele Vorstellungen und jeder versteht unter dem Begriff etwas anderes. Das macht es leider schwer. Keine Angst, denn das was jetzt kommt hat nicht viel mit Esoterik oder Religion zu tun.
Okay. Die einen werden nun aufatmen und die anderen sind enttäuscht. Seufz. Man kann es nicht allen recht machen. Unter Meditation versteht leider jeder etwas anderes.
Ich verwende den Begriff hier so, wie er in buddhistischen Schriften in Indien und Tibet gebraucht wird. Der Sanskrit-Begriff bhāvana bzw. seine tibetische Entsprechung bgom kann ganz einfach mit „etwas kultivieren“ übersetzt werden.
Es geht also darum, etwas, was man gelernt und mehr oder weniger gut verstanden hat, im Geist weiter zu kultivieren. Anders ausgedrückt geht es darum, dass das Gelernte vom Kopf in den Bauch rutscht.
Das versuche ich hier nun auf das Thema Risiko bei der Geldanlage und der Frage 100% Aktien oder Anleihen anzuwenden.
Lies Dir den folgenden Text daher langsam und in Ruhe durch. Mache zwischendurch immer mal wieder eine kurze Pause und stell Dir das Gesagte bildlich so klar wie möglich vor. Du kannst dazu auch die Augen zu machen.
Es geht dabei nicht darum, das Gesagte zu verstehen. Das ist ganz einfach und sollte keine große Herausforderung darstellen.
Nein. Es geht vielmehr darum, dass Du Dich in die konkrete Situation versetzt und versuchst, sie im Geiste zu durchleben. Versuche zu spüren, wie sich das anfühlt.
Das ist leider das Problem mit der Risikotoleranz beim Investieren. Bevor man es selbst durchlebt hat, unterschätzt man oft, wie sehr es einen mitnimmt. Die kurze Risiko-Meditation soll Dir dabei helfen, ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, was Dich erwartet.
Die kurze Risiko-Meditation beginnt
Lies dazu bitte den jeweiligen Abschnitt durch bis Du zu einem Einschnitt mit drei Asterisken kommst „* * *“. Halte dann kurz inne und denke über das Gesagte nach.
Versuch Dir die Situation so klar bzw. so realistisch wie möglich vorzustellen und Dich darin hineinzuversetzen.
Lass es einen Moment auf Dich einwirken, bevor Du mit dem nächsten Abschnitt weitermachst.
Wenn Dir das nicht passt, ist das auch kein Problem. Dann lies es Dir einfach durch und denke darüber nach. Das geht natürlich auch.
Der Anfang Deiner Reise als Anleger oder Anlegerin
Stell Dir einen Augenblick vor, Du stehst ganz am Anfang Deiner Karriere als Anleger oder Anlegerin.
Deine Eltern oder wer auch immer gab Dir einen kleinen Anschub und Du bist mit einem Einmalbetrag von 25.000€ gestartet.
Schau Dir Deinen Kontostand am Anfang an und versetze Dich in Deine Situation. Du bist voller Freude über diesen Schritt, nun Dein erstes Depot aufzubauen.
Du investierst alles auf einmal in den MSCI World und legst auch gleich einen Sparplan an, um weiter zu sparen. Sehr vorbildlich.
Du erinnerst Dich, wie Du Deiner Familie und Freunden voller Enthusiasmus davon berichtest. Nicht jeder ist von Deiner Idee überzeugt, aber Du bist entschlossen und gehst Deinen Weg.
* * *
Der lange Weg zum Vermögen
Und es ist kein einfacher Weg, Dein Vermögen aufzubauen. Du brauchst dafür Ausdauer.
30 Jahre lang investierst Du im Durchschnitt ca. 470€ im Monat in einen MSCI World-ETF. Am Anfang, ist Dein Gehalt noch nicht so groß und die Sparraten entsprechend etwas niedriger.
Mit der Zeit werden sie aber größer und Du hast verzichtest dafür durchaus auch mal auf die eine oder andere schöne Sache wie eine Reise oder ein schickeres Auto.
Freunde und Partner belächeln das manchmal. Sie meinen, Aktien sind gefährlich und Du solltest Dir lieber etwas gönnen. Man lebt ja schließlich nur einmal.
Doch das ist okay für Dich, denn Du hast Dein Ziel stets vor Augen: Du möchtest eine Million zusammensparen.
Um dieses Ziel zu erreichen, hast Du Dein Geld in einen thesaurierenden ETF gesteckt und dieser hat nach Gebühren eine Rendite von 8,4% erwirtschaftet.
Diese Zahl ist keine Erfindung, sondern entspricht den Marktrenditen zwischen 1992 und 2021 laut Renditedreieck des MSCI World Index von Christian W. Röhl für Sparplan-Anlagen.
Und die Börse meint es gut mit Dir. Nach etwa 7 Jahren fällt die 100.000€-Marke. Was für ein Erfolg! Du denkst: „The Sky is the limit!“ Im Kopf überschlägst Du bereits, wie lange es bei dieser Entwicklung noch dauert, bis Du die Millionen zusammen hast.
Mit diesem Ansporn sparst Du eifrig weiter. Nur 7 Jahre später ist es dann soweit. Du hast auch die Viertelmillion geknackt.
Mittlerweile bist Du verheiratet und auch Dein Partner / Deine Partnerin findet es toll, dass Du Dein Geld anlegst.
Hin und wieder gibt es aber ein paar Diskussionen, denn er/sie würde das Geld lieber in eine gemeinsame Wohnung investieren.
Du setzt Dich in den Diskussionen durch und hältst Deinen Kurs bei. Auch während einer kleinen Episode, in der Du ein Jahr arbeitslos bist.
Du kannst in dieser Zeit zwar nicht viel zurücklegen, doch Du widerstehst der Versuchung, Deine Rücklagen anzufassen.
So gelingt es Dir auch, weitere 8 Jahre später die halbe Million zu erreichen. Im Ganzen bist Du jetzt seit 22 Jahren investiert. Was für eine Leistung! Gratuliere!
Genieße diesen Erfolg für einen Moment.
* * *
Mit 100% Aktien ist der Weg zum Vermögen holprig
Auf dem Weg dorthin gab es aber immer mal wieder ein paar kleinere Korrekturen. Dein Portfolio mit 100% Aktien hat zwischenzeitlich auch mal 20% an Wert verloren, aber das hast Du bisher ganz gut verkraftet.
Doch was ist das jetzt? Ein neuartiges Virus breitet sich aus. Es kommt zu Lockdowns und Einschränkungen.
Dies geht auch an den Börsen nicht spurlos vorüber. Nach und nach brechen die Kurse um 25% ein.
Dein Portfolio sinkt rapide und hat jetzt „nur noch“ einen Wert von etwas über 380.000€.
Insgesamt hat Dein Portfolio in kürzester Zeit also etwas über 125.000€ an Wert verloren. Eine stattliche Summe.
Keiner weiß, wie es weitergeht. Der berühmte Börsen-Guru Dieter Müller sagt, ein großer Crash droht, wie er noch nie dagewesen ist.
Eigentlich möchtest Du ja in 8 Jahren in Rente gehen. Ob das nun klappt? Deine Partnerin / Dein Partner ist zutiefst verunsichert und macht Dir Vorwürfe.
* * *
Durchhalten lohnt sich
Glück gehabt. Die Börsen haben sich doch schnell wieder beruhigt und es hat sich ausgezahlt, dass Du nichts getan hast.
Die Börsen sind nun in ruhigeren Fahrwassern unterwegs und die Gewinne sprudeln.
So gelingt es Dir, nach gerade einmal 8 weiteren Jahren die Million Euro-Marke zu knacken!
Du hast 30 Jahre diszipliniert gespart um dieses Ziel zu erreichen und nun heißt es: herzlich willkommen im Club der Millionäre.
Halte nun einen Moment inne und stell Dir vor, wie sich das anfühlt. Spüre in Dich hinein. Fühlst Du, wie Du Dich freust.
Das ist wirklich ein großer Erfolg. Du hast lange darauf hingearbeitet. Nimm Dir etwas Zeit, um dieses Gefühl zu genießen, bevor Du weiterliest.
* * *
Und dann kommt es ganz dick
Wechsle nun die Ausrichtung. Stell Dir vor, Du liest eine Börsenzeitung. Sie ist voller Meldungen, die ein düsteres Bild zeichnen.
Mehrere Staatsbanken haben den Leitzins angehoben und zahlreiche Unternehmen mussten Konkurs anmelden.
Mehrere große Banken sind ebenfalls pleite und die Staaten weigern sich dieses Mal, die Banken zu retten. Es entsteht ein Flächenbrand.
Experten sprechen vom größten Crash aller Zeiten. Es wird zu einem Umbruch kommen und der Ausgang ist ungewiss.
Weltweit brechen die Börsenkurse ein. Am ersten Tag geht es etwa 10% nach unten. Dein Portfolio liegt nun wieder bei ca. 900.000€. Am zweiten Tag steigt es sogar wieder leicht auf 905.000, aber die Experten sprechen weiterhin von einer großen Bedrohung.
Du hast aber schon größere Schwankungen durchgestanden. So leicht lässt Du Dich nicht beeindrucken und die Experten lagen zuvor auch falsch.
Am dritten Tag sinkt Dein Portfoliostand dann jedoch drastisch. Er rauscht ab und liegt unter der Marke von 450.000€. So niedrig stand Dein Depot seit 10 Jahren nicht mehr.
Stell Dir die Benutzeroberfläche Deines Brokers vor und visualisiere den Kontostand. Lass die Zahlen auf Dich wirken.
Mehr als eine halbe Million ist verschwunden. Das entspricht einem netten Einfamilienhaus oder fünf Teslas der Model S-Baureihe.
Würde das Geld auf einem Festgeldkonto liegen, hättest Du Dir damit über 13 Jahre lang hinweg 40.000€ pro Jahr auszahlen lassen können.
Du willst nun eigentlich nächstes Jahr in Rente gehen und rechnest fest mit dem Geld. Deine Kinder studieren noch und brauchen Deine Zuwendungen.
Dein Partner / Deine Partnerin und Du wollten eigentlich im Alter viel reisen und die Welt sehen.
Er/Sie liegt Dir nun in den Ohren und sagt: „Ich habe es Dir ja immer gesagt. Aktien sind gefährlich. Hätten wir unser Geld doch nur rechtzeitig aus den Aktien herausgeholt und uns lieber eine Wohnung gekauft. Jetzt ist alles weg. Verkaufe sofort alles, bevor der Rest auch noch weg ist. Du hast schon genug angerichtet mit Deiner Spekulation. Ich meine es ernst.“
Du bleibst hartnäckig, aber die Börsenkurse erholen sich einfach nicht. Auf die eine Krise folgt die Nächste.
Stell Dir Deinen Partner / Deine Partnerin genau vor, wie er/sie Dir Vorwürfe macht, während gleichzeitig im Fernsehen eine Reportage läuft, die die jetzige Situation mit der großen Rezession der 30er Jahre vergleicht.
Es wird vermutet, dass die Aktienmärkte sich auf absehbare Zeit nicht mehr erholen werden und dass ein Systemwandel wahrscheinlich wird.
Wie fühlst Du Dich? Sei ehrlich mit Dir selbst.
* * *
Finale – Wie steht es um Deine Risikotoleranz
Die kurze Risiko-Meditation ist nun zu Ende. Es ist aber wichtig, dass Du Dir nun ein paar Gedanken machst und das Erlebte reflektierst.
Denkst Du, dass Du in einer solchen Situation gelassen und entspannt bleiben würdest? Denkst Du weiterhin „Ja, 100% Aktien sind mein Ding!“? Ist Deine Risikotoleranz wirklich so hoch oder machst Du Dir damit etwas vor?
Fühlst Du Dich damit doch nicht ganz so wohl? Hast Du vielleicht doch ein paar Zweifel, ob Du in dieser Situation nicht in Panik geraten wärst und alles verkauft hättest?
Und ebenfalls wichtig – falls vorhanden – wie schätzt Du Deinen Partner / Deine Partnerin ein?
Das beschriebene Szenario ist jedenfalls kein Unrealistisches. Solche Entwicklungen sind jederzeit möglich und können selbstverständlich auch zum ungünstigsten Zeitpunkt eintreten: dann, wenn Du gerade in Rente gehen willst.
Darauf solltest Du in mehrerlei Hinsicht vorbereitet sein. Dafür musst Du einerseits emotional gerüstet sein. Andererseits muss Dein Portfolio so zusammengestellt sein, dass es in punkto Risiko zu Dir passt.
Auch wenn sie wenig Rendite abwerfen: Anleihen stabilisieren ein Portfolio und ab einem gewissen Alter macht eine substanzielle Beimischung Sinn. Ist Deine Risikotoleranz gering, halte ich sie sogar für essenziell.
100% Aktien können Sinn machen, wenn Du jung bist, aber Deine Risikotoleranz muss entsprechend hoch sein.
Ich weiß, Anleihen sind nicht sehr beliebt heutzutage. Sie sind quasi die Feinripp-Unterwäsche der Geldanlage. Dennoch haben sie ihre Berechtigung im Portfolio.
Wie Du Anleihen ganz geschickt in Dein Portfolio integrieren kannst, ohne in frühen Jahren auf hohe Aktienrenditen zu verzichten, geht es bald in einem weiteren Artikel.
Und etwas off-topic: ich bin mittlerweile ziemlich zufrieden mit der Trade Republic Card. Die Saveback-Funktion funktioniert ganz gut. Ja, 1% ist nicht viel, aber immerhin.
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